Corona in Krisenregionen

Wie Frauen zur Stabilität der Gesellschaften beitragen.

Unser Bericht für den Rundbrief der Fabrik No. 68, Juli 2020.

 

Die Corona-Krise ist eine historische Herausforderung für unsere Gesellschaft. Plötzlich erleben wir die Auslastung unseres Gesundheitssystems, einen wirtschaftlichen Shutdown und die massive Einschränkung unserer Bewegungsfreiheit. Einmalig ist, dass es sich hierbei um eine globale Pandemie handelt, die weltweit mit wiederkehrenden Mustern ausbricht. Was oft zu dem Irrglauben führt: Corona treffe alle gleich. Falsch: diese globale Gesundheitskrise verstärkt die bestehenden Ungleichheiten.

Stärker betroffen sind Krisenregionen: Wo Kriege und Konflikte herrschen, wo Geflüchtete in desolaten Unterkünften wohnen, ist die Pandemie-Gefahr existenziell, da die Gesundheitssysteme nicht in der Lage sind, darauf zu reagieren. Gleichzeitig wiegt sie verhältnismäßig wenig angesichts der vielen anderen Krisen, mit denen die Menschen in diesen Länder Tag für Tag zu kämpfen haben.

Stärker betroffen sind Frauen: Krisen sind nicht geschlechtsneutral. Es sind in großer Zahl Frauen, die in den für unsere Gesellschaft so zentralen und überlebenswichtigen Arbeitsfeldern aktiv sind und den Alltag am Laufen halten. Und es sind sie, die in großer Zahl den höchsten Preis zahlen:

» Ausgangssperre und Isolation führten weltweit zu einer Zunahme der häuslichen Gewalt. UN Women spricht von einer „Schattenpandemie“.

» Erzieherin, Krankenpflegerin, Kassiererin: Frauen sind in „systemrelevanten“ Berufen überproportional vertreten und somit einem höheren Ansteckungsrisiko ausgesetzt.

» Wirtschaftlich sind Frauen besonders stark betroffen, da sie öfter im informellen Sektor arbeiten. In der Krise verloren viele ihren Job und ihr Einkommen.

» Auch zu Hause verstärkt sich die strukturelle Ungleichheit: Frauen übernehmen deutlich öfter als zuvor die Arbeit im Haushalt und die Kinderbetreuung.

Frauen in Krisen- und Kriegsregionen spielen eine zentrale Rolle – für den Frieden und für die Stabilität der Gesellschaften. Unsere Projektpartnerinnen sind dafür das beste Beispiel. Unter widrigsten Bedingungen setzen sie sich für Frauenrechte und im Kampf gegen sexualisierte Gewalt ein. In Zeiten der Pandemie zeigen sie, wie erprobt sie im Umgang mit Krisen sind, wie schnell sie sich an den neuen Bedarf anpassen und alternative Hilfs- und Beratungsstrukturen finden.

Solidarität ist die Antwort! Wir müssen davon ausgehen, dass die langfristigen Folgen des Virus für die globale Ungleichheit massiv sein werden. Wegschauen wäre fatal. Uns ist es wichtig, als zivilgesellschaftliche Organisation an einer neuen Normalität zu arbeiten, die geschlechtergerecht, solidarisch und feministisch ist.



» Bosnien und Herzegowina | Wirtschaftliche Schwierigkeiten für Frauen

„Die schlimmsten Konsequenzen der Corona-Krise werden wir [erst] nach der Pandemie sehen“, sagt unsere Partnerin Selma. Damit meint sie die wirtschaftlichen Konsequenzen. In Bosnien und Herzegowina arbeitet die Mehrzahl der Frauen im informellen Sektor. Wenn die Arbeit ausfällt, bleiben sie ohne Einkommen und ohne Anspruch auf eine soziale Absicherung. Besonders hart sind die Auswirkungen für Frauen in den ländlichen Regionen. Dort lebten viele Frauen bereits vor Corona an der Armutsgrenze. Für die Frauen, die noch immer unter den Folgen von Kriegsgewalt leiden, hat die aktuelle Lage zusätzliche negative Auswirkungen für ihr psychisches Befinden.

In der lokalen Wirtschaft und im Gemeinwesen spielen Frauen eine wichtige Rolle: Sie arbeiten auf dem Feld oder im Handwerk, übernehmen die unbezahlte Care-Arbeit für ihre Nachbarn und Verwandten. Bei uns würde man sagen: „systemrelevant“. Doch die gesellschaftliche Anerkennung bleibt aus. Um diese Ungerechtigkeit zu bekämpfen, stehen unsere Partnerinnen entschieden und ununterbrochen an der Seite der Frauen, mit Rechtsberatung, wirtschaftlichem Empowerment und Advocacy-Arbeit./p>

» Libyen | Der Krieg geht weiter

Stillstand gibt es in dem Bürgerkriegsland selten. Dort pausieren weder die Kämpfe, noch die Zivilcourage unserer Partnerinnen. In Zeiten von Corona mussten die Beratungszentren in Tripolis und Bengasi zwar schließen, aber für Frauen in Not sind unsere Partnerinnen weiterhin verlässlich da: Über das Hilfetelefon sind die Sozialarbeiterinnen tagtäglich erreichbar. Im Handumdrehen hat das Team in Tripolis zudem eine Informationskampagne auf die Beine gestellt mit dem Ziel der gesundheitlichen Aufklärung zu COVID-19. Und dennoch: Der Krieg geht weiter, unbeeindruckt von der Gesundheitskrise. Die Bevölkerung in und um Tripolis befindet sich seit einem Jahr im Kreuzfeuer der sich bekämpfenden Seiten. Diese Kämpfe finden teilweise in unmittelbarer Nähe zu unserem Beratungszentrum statt. Während der coronabedingten Ausgangssperre haben sich die Kämpfe sogar intensiviert. Die libysche Zivilbevölkerung ist die Leidtragende, besonders schwer betroffen sind Frauen: Ihre Bewegungsfreiheit wurde in der Krise noch weiter eingeschränkt. Hilfestrukturen können sie kaum aufsuchen, während zu Hause die Gefahr von häuslicher Gewalt steigt. Die Arbeit unserer Partnerinnen vor Ort ist daher essenziell und braucht unsere Unterstützung!


» Ukraine | Mobile Teams gehen online

In Donezk Oblast sind die Corona-Zahlen mit nur ca. 230 gemeldeten Fällen relativ niedrig geblieben. Dennoch gelten die Einschränkungen im ganzen Land: Seit nunmehr zwei Monaten können die mobilen Teams unserer Partnerorganisation nur bedingt in die sogenannte Pufferzone fahren, um ihre Klientinnen dort zu beraten. Die Pufferzone bezeichnet den Streifen Land zwischen prorussischen Separatisten und ukrainischen Truppen – ein Gebiet mit vielen Check-Points und Kontrollen. „Von Bewegungsfreiheit kann man dort nur träumen“, so unsere Partnerin aus Mariupol, „Das größte Problem dort ist nach wie vor der Krieg. An der ‚Kontaktlinie‘ kommt es täglich zu Kampfhandlungen.“ In der Pufferzone fehlt es an medizinischer Versorgung und Beratungsstellen. Die Corona-Krise hat die Lage verschärft, auch was häusliche Gewalt angeht. Darauf haben unsere Partnerinnen sehr schnell reagiert. Die Orte entlang der Demarkationslinie haben sie ausgiebig plakatiert, um auf ihre Telefon- und Online-Beratung aufmerksam zu machen. Statt Gruppentreffen bieten sie nun Online-Treffen an - für sie eine ganz neue Erfahrung. In dieser Ausnahmesituation ergreift unsere Partnerorganisation mit Erfolg die Chance für die Digitalisierung.


» Libanon | Geflüchtete Frauen mehrfach isoliert

Im Libanon überschlagen sich die Krisen. Das Land steht zwischen einem Staatsbankrott, den Protesten gegen Korruption und einer humanitären Krise der Geflüchteten. Der Libanon, ein Staat mit etwa 4,5 Mio. Einwohner*innen, hat geschätzte 1,5 Mio. Syrer*innen aufgenommen, davon 70 % Frauen und Kinder. In den Geflüchteten-Camps sind die Lebensbedingungen desolat. Ein Pandemie-Ausbruch hätte hier dramatische Folgen. In den Camps konnten NGOs zum Höhepunkt der Krise nur sehr eingeschränkt arbeiten. Dabei hat sich der Alltag für syrische Frauen stark verschlechtert. „Im März haben wir einen deutlichen Anstieg der Kontaktaufnahme von Frauen über die sozialen Medien bemerkt“ berichtet unsere Partnerin. Am Telefon wirken sie depressiver als zuvor. Die häusliche Gewalt ist in dem Kontext der Angst und der Isolation stark gestiegen. Um die Frauen weiterhin unterstützen zu können, führen unsere Partnerinnen nun therapeutische und rechtliche Beratungen sowie Informationskurse über das Telefon oder die sozialen Netzwerke durch. Sie haben eine Aufklärungskampagne zur Pandemie gestartet, verteilen Flyer und informieren über das Thema häusliche Gewalt. Trotz und gerade wegen Corona ist es für unsere Partnerinnen die oberste Priorität, Frauenrechte und den Kampf gegen sexualisierte Gewalt in der Öffentlichkeit zu thematisieren.

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