Im Einsatz für ein demokratisches Syrien
Ende 2024 wird das Regime von Baschar al-Assad in Syrien gestürzt. Die Hauptstadt Damaskus wird von Rebellen des islamistischen Milizbündnisses HTS eingenommen. Der Diktator Assad flieht, die Hoffnung auf ein freies Syrien lebt auf. Der Moment wird von vielen als Chance für Syrien empfunden – aber es gibt auch große Sorgen um Gleichberechtigung und Menschenrechte.
Am 25.03.2025 führte AMICA ein Gespräch zu diesem Thema mit Sabah Al Hallak, Frauenrechtsverteidigerin und Mitglied unserer Partnerorganisation Syrian Women’s League (SWL).
„Wir werden die Hoffnung nicht aufgeben und uns für ein demokratisches Syrien einsetzen.“
Ein Interview mit Sabah Al Hallak
Sabah Al Hallak ist syrische Juristin, Feministin und Frauenrechtsverteidigerin. Seit 1985 ist sie Mitglied der Syrian Women’s League (SWL). Ihr Ziel: Menschen- und Frauenrechte sowie der Aufbau eines freien und gerechten Syriens. Die Ausarbeitung einer geschlechtergerechten Verfassung steht im Fokus ihrer Arbeit. Seit drei Jahren lebt Sabah als politische Geflüchtete in Berlin. Sie engagiert sich von dort aus weiterhin für Frauen-und Menschenrechte.
Aktualisierung (Stand Mai 2025)
Dieses Interview wurde am 25.03.2025 geführt. Inzwischen hat sich die Situation weiterentwickelt. Am 30.03.2025 wurde eine Übergangsregierung eingesetzt, die das Land für die nächsten fünf Jahre bis zu geplanten Wahlen führen soll. Diese zählt 23 Kabinettsmitglieder, darunter eine Frau als Ministerin für Soziales und Arbeit: Hind Kabawat ist Christin, Anwältin und Friedensaktivistin, sie gehörte dem Verhandlungsteam der syrischen Opposition in Genf an. Die Ressorts Verteidigung/Justiz/Innen- und Außenpolitik bleiben in den Händen der Verbündeten der HTS. |
AMICA:Wie geht es dir seit dem Sturz von Assad vor drei Monaten?
Sabah Alhallak: Ich selbst bin erstmal viel zufriedener, muss aber noch meine Gedanken sammeln. Ich möchte mich für eure nachhaltige und lange Unterstützung der syrischen Frauen bedanken. Es sind neue Kämpfer an der Macht – mit salafistischen Wurzeln. Neue djihadistische Kämpfe sind entbrannt. Also einerseits ist der Sturz verwirklicht und damit der Traum des syrischen Volkes in Erfüllung gegangen. Das neue Regime hat betont, Menschenrechte in der gemischten syrischen Bevölkerung in den Mittelpunkt zu stellen. Andererseits ist Vorsicht gegenüber diesem neuen salafistischen Regime geboten: Was ist mit Menschenrechten gemeint?
Wie siehst Du die Chancen für einen rechtsstaatlichen, demokratischen Wiederaufbau?
Es ist noch nichts wirklich erreicht. Es gibt keine einheitliche Auffassung von Demokratie und man erlebt ein Tauziehen zwischen den Salafisten und den demokratischen Kräften. Seit 50 Jahren leben wir ohne Freiheit. Aber das Wort „Demokratie“ wurde in Al-Sharaas Erklärung zur Machtübernahme nicht mal erwähnt. Daher gibt es erhebliche Befürchtungen um die Gleichberechtigung, die Demokratie und die Menschenrechte.
Nach dem Sturz Assads Anfang Dezember 2024 wurde beispielsweise erwartet, dass innerhalb von drei Monaten, also bis zum 10. März 2025, eine Übergangsregierung mit 30% Frauenanteil und Vertreter*innen aller Parteien gebildet wird. Weiterhin regiert aber die „Rettungsregierung“, die eigentlich durch die Übergangsregierung ersetzt werden sollte [aktueller Stand: siehe Kasten]. Außerdem sind wir um Bildung sowie Frauen- und Menschenrechte sehr besorgt – konkret befürchten wir, dass das Bildungsministerium salafistisch geleitet wird. Und es besteht berechtigte Sorgen, dass Die Zeit der Diktatur und die Gerichte die allgemeinen Kriegsverbrechen nicht verfolgen werden.
Wie sehen die Chancen für die demokratischen Kräfte aus? Was ist deine Einschätzung?
Wir werden die Hoffnung niht aufgeben und uns für ein demokratisches Syrien einsetzen. Für dieses Ziel ist die syrische Zivilgesellschaft qualifiziert und kompetent. Wir als Zivilgesellschaft arbeiten weiter aktiv für einen demokratischen Staat. Die Proteste verlaufen friedlich. Es finden Workshops zu dem Begriff und der Auffassung von Demokratie statt. In den ersten zwei Monaten nach dem Sturz Assads war es problemlos möglich, solche Workshops zu halten. Vor allem in Damaskus. Inzwischen hat sich die Lage etwas verschärft. Doch die Revolution war gegen das alte Regime und die Hoffnung stirbt zuletzt.
Wie schätzt Du die Regierung ein?
Unsere Befürchtungen wachsen. Im letzten Monat gab es immer mehr negative Anzeichen. Das Parteiengesetz wurde missachtet. Genehmigungen für Parteien und Organisationen wurden verweigert, und neue Verordnungen werden jetzt nur unter der Kontrolle des Staates erlassen. Konferenzen z.B. über transformative Gerechtigkeit wurden nicht zugelassen und Arbeitsgruppen zu Arbeitsrechten wie z.B. nicht bezahlten Löhnen ebenfalls nicht genehmigt.
Der HTS-Anführer hat ein inklusives Syrien versprochen, ohne Benachteiligung von Minderheiten und Frauen. Wie schätzt du das ein?
Die Absichtserklärung der derzeitigen Regierung bezüglich einer neuen Verfassung klingt erstmal positiv. Die internationalen Abkommen sollen respektiert werden, Frauen sollen vor Gewalt geschützt werden.
Ist es nur rhetorisch?
Dies ist nur eine vorläufige Erklärung. Der Verfassungsausschuss, der die endgültige Version aufsetzen wird, muss noch ins Leben gerufen werden.
Im Formulierungsvorschlag für die Verfassung klingt vieles sehr positiv: Internationale Abkommen sollen akzeptiert werden, es wird auf die Wünsche und Ziele der Frauenrechtler*innen eingegangen und Gewaltschutz wird erwähnt. All das ist das Ergebnis unseres 15-jährigen Kampfes. Aber diese Fassung wird in den Medien nicht besprochen und das ist ein Problem.
Im derzeitigen Entwurf kommen Themen wie Identität und Ethnie, Schutz vor Diskriminierung aus ethnischen, religiösen und sexuellen Gründen, Gleichberechtigung und Frauenquote gar nicht vor. SWL verfolgt die Agenda der Frauen- und Menschenrechte und kämpft dafür, dass sich das ändert.
Daher machen wir uns Sorgen, dass es in der finalen Version auch nicht stehen wird. Doch hoffen wir, dass es noch kommt: Wir haben Kontakt mit zwei aktiven Frauenrechtlerinnen, die für den Ausschuss zur Wahl stehen.
Sind Frauenrechtsorganisationen besonders betroffen?
Ja. Am 8. März fand eine politische Versammlung von Frauen statt. Sie wurde allerdings vom Militär begleitet. Aus Sicherheitsgründen haben die Frauen sich entschieden, ihre Forderungen nicht während der Versammlung zu nennen, sondern sie nur über Social Media zu teilen. Sowas macht uns große Sorgen.
Kannst Du uns den Alltag der Frauen beschreiben?
Offiziell gibt es keine Einschränkungen, auch bei Kleidern nicht. Doch werden in letzter Zeit immer öfter Aufrufe zum Tragen von Kopftüchern an die Wände der Städte plakatiert – die Aufrufe richten sich bisher an sunnitische Muslime. Aber in Schulen oder am Arbeitsplatz gibt es keine Vorschriften. Außerdem wird seit neuestem eine Trennung zwischen Frauen und Männern in den öffentlichen Verkehrsmitteln Stück für Stück vorangetrieben oder auch Geschlechtertrennung an den Universitäten. Erwähnenswert ist auch die Ernennung einer Frauenbeauftragten, Aisha al-Dibs, als Leiterin des Women’s Affairs Office. Diese setzt sich jedoch nicht für Frauenrechte ein, sondern fördert aktiv die „typische Rolle“ der Frauen in der Gesellschaft. Eine sehr konservative Rolle. Daher die große Sorge, dass die Menschenrechtsverletzungen und die Verbrechen des Assad-Regimes nicht verfolgt und aufgearbeitet werden. Schrecklich sind auch die Massaker an der alawitischen Minderheit in den letzten Wochen.
Ist Syrian Women’s League aktuell aktiv?
Die Syrian Women’s League und andere feministische Organisationen sind sehr aktiv. SWL hat bspw. eine Kampagne gestartet mit dem Ziel, dass Kinder syrischer Mütter die syrische Staatsangehörigkeit bekommen können, auch wenn ihre Väter keine syrischen Staatsbürger sind. Wir führen unter anderem auch viele Gespräche mit Aktivist*innen und arbeiten weiter aktiv für eine bessere Verfassung.
Warst du die letzten Monaten vor Ort?
Ich bin seit 3 Jahren als politische Geflüchtete in Deutschland und habe seit dem Sturz Assads mehrfach versucht, eine Genehmigung für eine Reise nach Syrien zu bekommen – bisher ohne Erfolg. Es wäre so wichtig, jetzt die Akten einzusehen und nach Verschollenen zu suchen. SWL ist sehr aktiv dabei und sehr gut vernetzt.
Was sind aktuell die Lichtblicke für dich?
Zunächst ist es positiv, dass Syrien in den Fokus der internationalen Gesellschaft gerückt ist und diese das Geschehen überwacht. Es ist auch ein gutes Zeichen, dass die deutsche Botschaft wieder eröffnet wurde. Die Besuche der deutschen Außenministerin bauen ebenfalls Druck auf das Regime und auf Al-Sharaa auf, das ist positiv. Die syrische Gesellschaft hofft auf die Rückkehr der Geflüchteten, sobald die Infrastruktur wiederaufgebaut ist.
Die zwei Frauenrechtlerinnen, mit denen ich befreundet bin, arbeiten an der Verfassung mit. Das Parlament wird von Al-Scharaa berufen, er kann 2/3 der Mitglieder des Parlaments selbst auswählen. Bisher hatte das Parlament einen Frauenanteil von 22% – sie hoffen sehr, dass es mindestens dabeibleibt und dass der Verfassungsausschuss unsere Themen in der Verfassung verankern kann.
Seit dem Sturz des Regimes sind wir frei und können uns im ganzen Land bewegen. Früher war es unmöglich, zwischen den vier verschiedenen Landesteilen hin und herzureisen. Alles musste online stattfinden, jetzt können wir uns wieder physisch treffen und die Onlinemöglichkeiten trotzdem nutzen. Gerade heute findet z.B. eine Konferenz mit Kurdinnen zum Thema Frauenrechte statt. Das war früher unvorstellbar.