Frauen, Frieden und Sicherheit -
eine Studie zu UN1325

Die vorliegende Studie untersucht, wie geschlechtsspezifische Kriegsgewalt in deutschen entwicklungs- und sicherheitspolitischen Strategien dargestellt und adressiert wird. Diese Darstellung wird verglichen mit Einschätzungen von Gender-Expertinnen, die Projekte zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Kriegsgewalt umsetzen. Die gesamte Studie ist hier zu finden. Im Folgenden sind die Ergebnisse zusammengefasst.

» STUDIE

Geschlechtsspezifische Kriegsgewalt in der deutschen Entwicklungspolitik


von Britta Wasserloos

Die Bekämpfung geschlechtsspezifischer Kriegsgewalt ist eine Grundvoraussetzung um nachhaltigen Frieden und Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen. Geschlechtsspezifische Gewalt in bewaffneten Konflikten zu bekämpfen ist daher ein wichtiges Ziel der Entwicklungspolitik. Auf internationaler Ebene haben die Vereinten Nationen dies mit der Sicherheitsratsresolution 1325 zu „Frauen, Frieden, Sicherheit“ deutlich gemacht, und auch in Deutschland definiert das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geschlechtsspezifische Kriegsgewalt als wichtiges Thema. Die UN-Resolution 1325 „Frauen, Frieden und Sicherheit“ befasst sich mit der Situation von Frauen und Mädchen im Krieg und wird oft als Meilenstein im Kampf gegen geschlechtsspezifische Kriegsgewalt angesehen, die hier erstmals als Menschenrechtsverletzung und Kriegsverbrechen benannt wird. Besonders betont wird in der Resolution zudem die wichtige Rolle, die Frauen in Friedensprozessen und beim Wiederaufbau spielen.

Die Anerkennung der Tatsache, dass Gewalt gegen Frauen (*) in Kriegskontexten kein „Kollateralschaden“ ist, den es einfach hinzunehmen gilt, sondern ein ernstzunehmendes Problem, das politische Handlung erfordert, ist ein Erfolg, für den Frauenrechtsorganisationen lange gekämpft haben. Die Einbeziehung von geschlechtsspezifischer Kriegsgewalt in die Entwicklungs- und Sicherheitspolitik wird daher oft als wichtiger Schritt hin zu einem gendersensiblen Umgang mit Konflikten gewertet. Gleichzeitig kritisieren feministische Wissenschaftler*innen jedoch, dass die UN-Resolution 1325 die Grundursachen geschlechtsspezifischer Kriegsgewalt reproduziert, indem sie bestehende Geschlechterverhältnisse festschreibt. Dies ist problematisch, denn wenn die Grundursachen von Gewalt fortbestehen lässt sich Gewalt nicht nachhaltig bekämpfen und vermeiden.

Steht die deutsche Entwicklungspolitik, die sich auf Grundlage der Resolution der Agenda 1325 verschreibt, vor dem gleichen Problem? Reproduziert auch sie die Grundursachen geschlechtsspezifischer Kriegsgewalt, während sie diese eigentlich bekämpfen möchte? Zur Untersuchung dieser Frage wurden in der vorliegenden Studie bestehende deutsche entwicklungs- und sicherheitspolitische Strategien und Konzepte zu den Themen Frauen-Frieden-Sicherheit, (Post-)Konflikt-Kontext, sowie Geschlechtergerechtigkeit analysiert. Interviews mit Gender-Expertinnen aus deutschen Frauenrechtsorganisationen und Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit, die Projekte zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Kriegsgewalt durchführen, zeigen die Lücken in diesen Strategiepapieren auf.

Viele Faktoren tragen dazu bei, dass geschlechtsspezifische Gewalt in Kriegskontexten zunimmt – nicht zuletzt der Zusammenbruch von staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen wie Polizei, Gerichte oder soziale Beziehungen, die Gewalt in Friedenszeiten einhegen. Durch das entstehende Machtvakuum in bewaffneten Konflikten wird es für Täter*innen einfacher, ungestraft und ungehindert Gewalt auszuüben.

Dass sich Gewalt in besonderer Weise gegen Frauen richtet, lässt sich jedoch nur durch Geschlechterverhältnisse erklären. Frauen wird in patriarchalen Gesellschaften weniger Wert zugeschrieben als Männern, und sie werden entsprechend behandelt. Dies kann so weit gehen, dass Gewalt gegen Frauen für gerechtfertigt gehalten wird und Männern das Recht zugesprochen wird, Gewalt gegen Frauen auszuüben. Gleichzeitig können viele Frauen sich dieser Gewalt nicht entziehen, da die patriarchalen Strukturen ihnen Ressourcen verwehren und sie in Abhängigkeit zu Männern bringen. Beispielsweise sind Frauen oft für unbezahlte Sorgearbeit verantwortlich und werden auch für Lohnarbeit schlechter bezahlt als Männer, weshalb sie sich nicht einfach von gewalttätigen Partnern trennen können. Außerdem ist Frauen oft der Zugang zu Entscheidungspositionen verwehrt, sodass sie politische (oder militärische) Entscheidungen nicht in ihrem Interesse lenken können. Selbst dort, wo sich diese Machtverhältnisse im Krieg verschieben, z.B. wenn Frauen plötzlich Alleinversorgerinnen ihrer Familien werden, ist Gewalt gegen Frauen eine häufige Folge: Männer reagieren auf diese Machtverschiebung oft mit Gewalt, um ihre Vormachtstellung wiederherzustellen.

Überall dort, wo Frauen als weniger wertvoll, schwächer, oder weniger mächtig als Männer gelten, wird also eine Grundhaltung reproduziert, die Gewalt gegen Frauen befeuert. Das gilt weltweit, auch in Friedenszeiten. In Krisensituationen oder bewaffneten Konflikten verschärfen sich diese patriarchalen Geschlechterstereotype und Gewalt gegen Frauen nimmt deutlich zu. An genau dieser Stelle setzt die Kritik feministischer Wissenschaftler*innen gegenüber der Agenda 1325 an: Männer und Frauen werden in entwicklungspolitischen Strategien häufig auf eine Weise dargestellt, die bestehende Machtverhältnisse reproduziert.

 

Darstellung von geschlechtsspezifischer Kriegsgewalt in der deutschen Entwicklungspolitik

Vier Themen sind in der deutschen Entwicklungspolitik besonders prominent, wenn von geschlechtsspezifischer Kriegsgewalt gesprochen wird: geschlechtsspezifische Kriegsgewalt als Gewaltausübung männlicher Täter gegen weibliche Opfer (1), Krieg als Sonderfall (2), geschlechtsspezifische Kriegsgewalt als ein individuelles Problem (3), und die Bedeutung der Teilhabe von Frauen zur Überwindung des Problems (4).

 

1) Männliche Täter, weibliche Opfer

In der deutschen Entwicklungspolitik wird geschlechtsspezifische Kriegsgewalt als eine Handlung dargestellt, die von Männern gegen Frauen ausgeübt wird. Zwar sind aufgrund der oben beschriebenen ungleichen Geschlechterverhältnisse Frauen tatsächlich deutlich häufiger von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen während Männer häufige Gewalt ausüben.

Allerdings können auch Männer Opfer sexualisierter Kriegsgewalt werden und Frauen Täterinnen sein. Dies wird in der deutschen Entwicklungspolitik jedoch kaum anerkannt. Durch diese einseitige Problemdarstellung entsteht der Eindruck, Frauen seien von Natur aus vulnerabler und Männer seien von Natur aus gewalttätig. Tatsächlich sind es aber patriarchale Strukturen und Machtverhältnisse, die dazu führen, dass Frauen in bewaffneten Konflikten vulnerabel sind und häufiger geschlechtsspezifische Kriegsgewalt erleben als Männer.

Gleichzeitig sind auch Männer nicht von Natur aus gewalttätig. Bestehende Geschlechterverhältnisse führen dazu, dass Männer eher Gewalt ausüben als Frauen. Beispielsweise werden Dominanz und Gewalt oft als Anzeichen „echter“ Männlichkeit gewertet und Männer, die diesem Männlichkeitsideal entsprechen, erfahren mehr Anerkennung und Macht. Gewalttätige Männlichkeitsideale werden in Kriegskontexten noch verstärkt und teils gezielt zur Mobilisierung von Männern für den Krieg genutzt.
In einer einseitigen Darstellung von Männern als Tätern und Frauen als Opfern werden die Geschlechterverhältnisse, welche dazu führen, dass Frauen eher von Gewalt betroffen sind, nicht deutlich benannt. Bestehende Verhältnisse werden dadurch normalisiert und festgeschrieben. Frauen erscheinen als passive Opfer, Männer hingegen als gewalttätige, aber auch mächtige Täter. Eine Geschlechterhierarchie wird reproduziert: männliche Täter sind mächtiger als vermeintlich schwache, weibliche Opfer.

 

2.) Krieg als Sonderfall

Für geschlechtsspezifischer Kriegsgewalt wie etwa Vergewaltigungen oder sexuelle Ausbeutung machen die deutsche Entwicklungs- und Sicherheitspolitik v.a. den Krieg verantwortlich. Sie erkennen primär Gewaltformen, welche von bewaffneten Gruppen verübt werden, als Formen geschlechtsspezifischer Kriegsgewalt an. Der Kriegskontext befeuert jedoch auch andere Gewaltformen, wie beispielsweise häusliche Gewalt. Eine Darstellung, die den Fokus auf bewaffnete Gruppen als Täter legt und die Ursache von geschlechtsspezifischer Kriegsgewalt primär im Kriegskontext sieht, verschweigt, dass geschlechtsspezifische Kriegsgewalt v.a. in alltäglichen Geschlechterverhältnissen begründet ist. Sie reproduziert sogar bestimmte Gewaltformen, indem sie diese aus der Kategorie der geschlechtsspezifischen Kriegsgewalt ausschließt und somit als „normal“ und nicht kriegsbedingt definiert. Es entsteht der Eindruck, nur sexualisierte, von bewaffneten Gruppen ausgeübte Kriegsgewalt müsse in der internationalen Politik behandelt werden, andere Formen wie häusliche Gewalt jedoch nicht.

Ironischerweise wird so auch Krieg legitimiert: Indem die alltägliche Gewalt, die Frauen durch patriarchale Strukturen und ungleiche Geschlechterverhältnisse erfahren, unsichtbar gemacht wird, kann Krieg als eine Handlung gerechtfertigt werden, durch die Männer „ihre“ Frauen und Kinder schützen. Würde man die Gewalt, die Männer gegen „ihre“ Frauen und Kinder ausüben, sichtbar machen, so würde diese Rechtfertigung des Krieges keinen Sinn mehr ergeben. Durch dieses Narrativ entsteht auch der Eindruck, geschlechtsspezifische Kriegsgewalt sei ein Problem, das nur in „weniger entwickelten“, im Krieg befindlichen Ländern existiert. Die Grundlagen für diese Gewalt bestehen jedoch in allen Gesellschaften.

 

3.) Gewalt gegen Frauen als ein individuelles Problem

Eine weitere Darstellung im Rahmen der deutschen Sicherheits-und Entwicklungspolitik ist die Annahme, dass geschlechtsspezifische Kriegsgewalt durch fehlende Gesetze und fehlende Strafverfolgung hervorgerufen wird, und dass zur Lösung des Problems strengere Strafverfolgung notwendig ist. Dabei wird auch hier nur sexualisierte Gewalt als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt, andere Formen geschlechtsspezifischer Gewalt nicht. „Alltägliche“ Gewaltformen werden so normalisiert. Gleichzeitig lenkt die Strafverfolgung den Fokus auf individuelle Täter und verdeckt dabei die strukturellen Ursachen von Gewalt: einzelne Männer werden als pathologisch dargestellt, während die zugrundeliegenden Geschlechterverhältnisse, die Gewalt begünstigen, unangetastet bleiben.

Die Individualisierung des Problems findet auch auf einer weiteren Ebene statt: die deutschen Strategiepapiere schlagen zur Verbesserung der Strafverfolgung Schulungen für Personal im Sicherheits- und Justizsektor der betroffenen Staaten vor. Es wird also davon ausgegangen, dass mangelndes Wissen oder mangelnde Fähigkeiten des Personals die Gründe für unzureichende Strafverfolgung sind. Tatsächlich ist die Vernachlässigung der Verfolgung von Gewalttaten gegen Frauen seitens der Polizei-und Justizbehörden jedoch oft eine bewusste Entscheidung, die sich aus patriarchalen Geschlechterverhältnissen ergibt, welche Gewalt gegen Frauen banalisieren. Indem Strategiepapiere diesen Zusammenhang ignorieren, wird auch hier wieder die Verantwortung auf (vermeintlich ungenügend ausgebildete) Individuen abgewälzt, während strukturelle Ursachen aus dem Blick geraten.

 

4) Teilhabe von Frauen

Ein zentraler Bestandteil der Resolution 1325 ist die Forderung nach mehr Teilhabe von Frauen in politischen Entscheidungsverfahren, Friedensverhandlungen und Wiederaufbauprozessen. Diese Forderung findet sich auch in der deutschen Politik zu diesem Thema wieder. Immer wieder wird betont, dass Frauen in Friedensprozesse einbezogen werden müssen. Wie genau dies mit geschlechtsspezifischer Gewalt zusammenhängt wird jedoch nicht erläutert. Dadurch werden auch hier wieder Geschlechterverhältnisse als Grundursache des Problems übersehen:

Tatsächlich wird nämlich die Teilhabe von Frauen durch geschlechtsspezifische Gewalt und patriarchale Strukturen verhindert. Frauen werden gewaltsam von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen; d.h. die bestehenden ungleichen Machtverhältnisse, die sich in der geringen Teilhabe und Mitsprache von Frauen äußern, werden mit Gewalt durchgesetzt. Dabei kann es sich um physische Gewalt handeln, die sich beispielsweise in der gezielten Ermordung politisch aktiver Frauen zeigt. Definiert man jedoch Gewalt als all jene Strukturen und Handlungen, die die Lebenschancen und Potenziale eines Menschen einschränken, so ist darüber hinaus der gesellschaftliche Ausschluss von Frauen an sich bereits eine Form der Gewalt. Mangelnde Teilhabe von Frauen ist also sowohl Folge als auch Ausdruck von ungleichen Machtstrukturen und geschlechtsspezifischer Gewalt. Dies wird in den Strategiepapieren jedoch nicht anerkannt. Der Lösungsvorschlag in den Strategiepapieren der deutschen Entwicklungspolitik lautet, Frauen besser auszubilden, damit sie an Friedensverhandlungen teilnehmen und ihre Interessen vertreten können. Zwar ist Bildung ein wichtiger Baustein zur Förderung von Frauen. Die Strategien hierauf zu reduzieren verkennt jedoch, dass bestehende Strukturen Frauen aktiv ausschließen und führt dazu, dass die Schuld für die geringe Teilhabe von Frauen bei diesen selbst gesucht wird.

Dennoch wird die Forderung nach mehr Teilhabe von Frauen an Friedensprozessen oft als positive Entwicklung gewertet, denn Frauen treten in dieser Forderung als Akteurinnen auf, wodurch das problematische Narrativ von Frauen als passiven Opfern aufgebrochen wird. Bei genauerer Analyse der vorgeschlagenen Maßnahmen wird jedoch deutlich, dass dieser Darstellung in deutschen Strategiepapieren eine sehr beschränkte Definition der politischen Teilhabe von Frauen zugrunde liegt. Die Maßnahmen setzen politische Teilhabe mit wirtschaftlicher Teilhabe gleich und gehen davon aus, dass Mitbestimmung durch die Förderung bestimmter wirtschaftlicher Aktivitäten erreicht werden kann. Frauen sollen mehr Erwerbsarbeit leisten; sie sollen sich letztendlich in ein Wirtschaftssystem integrieren, welches ihre unbezahlte Reproduktionsarbeit nicht wertschätzt, sie sollen sich an dieses System anpassen. Das System an sich wird jedoch nicht verändert. Teilhabe wird also auf eine Weise definiert, die die bestehenden Geschlechterverhältnisse weitestgehend unverändert belässt.

 

» Zusammenfassend zeigt sich also ein Widerspruch in den deutschen Strategien: einerseits wird eine Veränderung gefordert, die durchaus als Transformation bestehender Geschlechterverhältnisse betrachtet werden kann; andererseits werden diese Geschlechterverhältnisse nicht als Ursache geschlechtsspezifischer Gewalt erkannt. Die Forderung nach mehr Teilhabe von Frauen wird somit nicht explizit als Mittel zur Veränderung bestehender Machtverhältnisse verstanden.

Expertinnen: Transformation der Geschlechterverhältnisse als Lösung

Expertinnen in deutschen Frauenrechtsorganisationen und Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit, die Projekte zur Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Kriegsgewalt durchführen, betonen hingegen, dass eine Veränderung der Geschlechterverhältnisse notwendig ist, um langfristig geschlechtsspezifische Kriegsgewalt zu verhindern. Sie adressieren zwar ebenfalls Faktoren wie den Kriegskontext, Rechtsstaatlichkeit und Strafverfolgung sowie die Teilhabe von Frauen, wenn sie von geschlechtsspezifischer Kriegsgewalt sprechen, allerdings betonen sie, dass all diese Faktoren mit bestehenden Geschlechterverhältnissen zusammenhängen und patriarchale Strukturen eine Grundursache geschlechtsspezifischer Kriegsgewalt sind. Krieg verstärkt also nur geschlechtsspezifische Gewaltformen, die auch vorher schon existierten. Eine Expertin formuliert es so:

Wir betonen immer, dass das immer auch zusammenhängt mit patriarchalen Strukturen, also dass es dann zu Gewalt gegen Frauen, also geschlechtsspezifischer Gewalt kommt, hat eben damit zu tun, dass es auch schon davor, vor Konflikten, häufig schon patriarchale Denk- und Handlungsmuster gab, an die dann angeknüpft wird.

Nach Ansicht der Expertinnen muss daher auf politischer Ebene auf eine Veränderung der Geschlechterverhältnisse hingewirkt werden, um geschlechtsspezifischer Kriegsgewalt vorzubeugen:

(Wenn) Friedensverträge, … Verfassungsprozesse usw. … abgeschlossen werden (ohne dass) in irgendeiner Art und Weise Geschlechtergerechtigkeit oder Ungleichheit angesprochen wurde … dann bringt das nichts, dann hast du wieder Geschlechterungleichheit verankert im System, und so ist das eine Spirale der Gewalt. Die dann immer wieder neu losgeht.

Das Verständnis der Expertinnen, dass Geschlechterverhältnisse die Ursache geschlechtsspezifischer Kriegsgewalt sind, spiegelt sich auch in deren Definition von geschlechtsspezifischer Kriegsgewalt wider. Im Unterschied zu den analysierten Strategiepapieren der deutschen Entwicklungs- und Sicherheitspolitik schließen die Expertinnen explizit verschiedene Formen geschlechtsspezifischer Gewalt, wie beispielsweise häusliche Gewalt und ökonomische Gewalt, in ihre Definition von Kriegsgewalt ein. Einige betonen sogar, dass eine Unterscheidung von Kriegsgewalt und Gewalt, die nicht kriegsbedingt ist, nicht sinnvoll sei, weil alle Formen geschlechtsspezifischer Gewalt, egal wann und wo sie stattfinden, miteinander verbunden seien: sie seien alle Ausdruck und Folge von ungleichen Geschlechterverhältnissen. Um geschlechtsspezifische Kriegsgewalt zu verhindern, müssten geschlechtsspezifische Gewalt und die zugrundeliegenden Geschlechterverhältnisse in allen Phasen – vor, während und nach einem Krieg – adressiert werden. Indem die Expertinnen auf die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Gewaltformen hinweisen, machen sie die ungleichen Geschlechterverhältnisse als Ursache von Gewalt sichtbar.

Die Expertinnen identifizieren nicht nur patriarchale Strukturen als Ursache von geschlechtsspezifischer Kriegsgewalt, sondern schaffen es auch, das Problem darzustellen, ohne bestehende Machtverhältnisse zu reproduzieren. Beispielsweise hinterfragen sie die Darstellung von (nur) männlichen Tätern und (nur) weiblichen Opfern, indem sie deutlich machen, dass Frauen und Männer beide Täter und Opfer sein können, und dass einige Täter zuvor selber Opfer geschlechtsspezifischer Kriegsgewalt waren. Außerdem lenken sie den Blick weg von individuellen Tätern und hin zu den strukturellen Ursachen geschlechtsspezifischer Kriegsgewalt – patriarchale Strukturen. Dadurch wird deutlich, dass Männer nicht von Natur aus gewalttätig und Frauen nicht von Natur aus vulnerabel sind. So wird vermieden, eine natürlich erscheinende Hierarchie zwischen Männern und Frauen zu reproduzieren. Im Gegenteil, die hierarchischen Geschlechterverhältnisse werden nicht als natürlich hingenommen, sondern als historisch gewachsen verstanden und sollen verändert werden, um geschlechtsspezifische Kriegsgewalt zu verhindern. Mehr Geschlechtergerechtigkeit, sowohl in bewaffneten Konflikten als auch in friedlichen Kontexten, wird somit als Schlüssel zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Kriegsgewalt gesehen.

Die Expertinnen machen dadurch auch deutlich, dass die Ursachen von geschlechtsspezifischer Kriegsgewalt überall zu finden sind, nicht nur in Kriegs- und Krisengebieten. Auch in friedlichen Kontexten haben z.B. Gesetze zum Erbrecht, Landrecht, zur Erwerbsarbeit von Frauen, zu Ehe und Scheidung sowie zum Sorgerecht einen Einfluss darauf, wie stark Frauen von Männern abhängig sind und wie verletzlich sie dementsprechend für geschlechtsspezifische Gewalt sind. Die Expertinnen sehen Gesetzesänderungen daher als eine Möglichkeit, mehr Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen und so auch Gewalt vorzubeugen. In diesem Sinne erweitern sie den Teilhabebegriff im Vergleich zu bestehenden entwicklungs- und sicherheitspolitischen Strategien: es geht ihnen nicht nur um Teilhabe an Friedensprozessen, sondern um politische Teilhabe generell. Dabei sehen sie die Teilhabe von Frauen an Entscheidungsprozessen in sich bereits als eine Veränderung bestehender Strukturen und Machtverhältnisse an, betonen aber auch, dass gleichberechtigte Teilhabe darauf abzielt, weitere Veränderungen bestehender Machtverhältnisse zu erzielen und so ungleiche Geschlechterverhältnisse aufzubrechen.

 

Schlussfolgerung

Deutsche entwicklungs- und sicherheitspolitische Strategien machen Geschlechterverhältnisse als Ursache von Gewalt unsichtbar. Stereotype, essentialisierende Darstellungen von Männern und Frauen reproduzieren Hierarchien zwischen den Geschlechtern und stellen diese als natürlich dar. Dadurch machen sie es unmöglich, Geschlechterverhältnisse zu verändern. Dies wäre jedoch für die Prävention von geschlechtsspezifischer Kriegsgewalt essenziell. Gender Expertinnen in Organisationen, welche entwicklungspolitische Projekte durchführen, betonen hingegen die Bedeutung von patriarchalen Strukturen als Ursache geschlechtsspezifischer Gewalt und sehen eine Lösung des Problems in der Veränderung bestehender Geschlechterverhältnisse.


Autorin: Britta Wasserloos hat einen Masterabschluss in International Development and Management. Bereits im Studium lag der Fokus ihres Interesses auf Geschlechterverhältnissen und Geschlechter(un)gerechtigkeit. Für ihre Masterarbeit erforschte sie, wie geschlechtsspezifische Kriegsgewalt in der deutschen Entwicklungs- und Sicherheitspolitik dargestellt wird und wie Genderexpertinnen dieser Darstellung widersprechen. Seit Juli 2021 ist sie Ukrainereferentin bei AMICA.

 

Anmerkung
Als Frauen werden hier Menschen bezeichnet, die sich als Frauen identifizieren und als Frauen identifiziert werden. Der Begriff „Männer“ bezeichnet dementsprechend Menschen, die sich als Männer identifizieren und als solche identifiziert werden. weiterlesen  ↑

 

Quellen und Lesetipps
UN-Resolution 1325, Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, 2000.

» Frieden? Nicht ohne uns!

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