AMICA in Bosnien und Herzegowina

Vergangenheitsbewältigung braucht Gerechtigkeit. Sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene. Nur so wird den Überlebenden sexualisierter Kriegsgewalt und der Gesellschaft die Möglichkeit gegeben, gestärkt in die Zukunft zu blicken.

Aufarbeitung und Aufbrechen von Tabus als Schlüssel zur Wahrheitssuche

Gerechtigkeit braucht mehr als die Verurteilung von Straftätern

Im Bosnienkrieg (1992-1995) wurde sexualisierte Gewalt als strategisches Mittel der Kriegsführung eingesetzt. Unter den schätzungsweise 20.000-50.000 Betroffenen, die Vergewaltigung und Folter erlebt haben, sind hauptsächlich Frauen. Bis heute fehlen der gesellschaftliche und politische Wille, diese Verbrechen tatsächlich aufzuarbeiten und strafrechtlich zu verfolgen.
Die Kriegsverbrechen an Frauen bleiben so ohne Konsequenzen. Die wichtige sozialrechtliche Absicherung in Form einer monatlichen Kriegsopferrente wurde bislang nur ca. 1.100 Betroffenen zugesprochen. Sie müssen sich durch einen langwierigen und komplizierten Prozess quälen, um das ihnen zustehende Geld zu erhalten. Mehr als 4.500 bekannte Täter sexualisierter Kriegsgewalt sind derzeit auf freiem Fuß. Weniger als 150 Fälle sexualisierter Kriegsgewalt sind gerichtlich abgeschlossen worden, davon wurden gerade einmal 22 Täter dazu verurteilt, Entschädigungszahlungen an 18 Personen zu leisten. Es braucht eine konsequente Aufarbeitung möglichst vieler Fälle, damit die Taten nicht mehr geleugnet werden können und um den Überlebenden von Kriegsgewalt mehr Gerechtigkeit zu verschaffen.
Dazu müssen zunächst einmal die Schwachstellen im Justizsystem konkret erkannt und benannt werden: Der Zeug*innenschutz in Gerichtsverfahren ist unzureichend, Prozesskostenhilfe und psychologische Unterstützung fehlen. Noch immer wird die Aufarbeitung systematisch ausgebremst und Betroffene werden entmutigt. Den Frauen wird es so zusätzlich erschwert, über ihre traumatischen Ereignisse zu sprechen und für ihre Rechte einzustehen. Auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit braucht es zudem eine kollektive Vergangenheitsbewältigung. Dafür müssen nationalistische Entwicklungen bekämpft werden, die Geschichte aufgearbeitet und die Wahrheit vor Leugnungen und Relativierungen geschützt werden.


Anfang der 2000er Jahre demonstrieren Frauen in Bosnien und Herzegowina mit dem Transparent “Tražimo istinu”: Wir suchen die Wahrheit

» Unser Projekt

Schutz und Selbstständigkeit für Überlebende von sexualisierter Kriegsgewalt

Kriegsverbrechensprozesse sind wichtig für die Aufarbeitung der Vergangenheit und das Zusammenwachsen einer zerbrochenen Gesellschaft: Sie können helfen, Wunden zu heilen und tragen zu Versöhnungs- und Wiederaufbauprozessen bei. Voraussetzung für diese Prozesse muss aber eine sensible und professionelle Rechtsberatung und Begleitung der Überlebenden von Kriegsgewalt sein. Ihre Aussagen sind oft das letzte Mittel zur Rekonstruktion der Verbrechen.
In unserem Projekt unterstützen wir daher betroffene Frauen und bilden Mitarbeitende von staatlichen Rechtsberatungsstellen im sensiblen Umgang mit Überlebenden weiter. Einen wichtigen Baustein bildet hier die Advocacy-Arbeit. Advocacy bedeutet, dass sich Dritte durch politische Anwaltschaft für die Interessen von benachteiligten Gruppen einsetzen, ohne diese Gruppe zu entmündigen. Es kann sowohl das Handeln von staatlichen Stellen als auch von anderen Akteur*innen aus Politik, Gesellschaft und Wirtschaft beeinflusst werden. In Bosnien erfolgt diese Arbeit mit dem Ziel, dass das Justizministerium Wissensvermittlung zu sexualisierter Kriegsgewalt und Traumasensibilität in der juristischen Ausbildung verankert.
Ziel ist letztendlich nicht nur, dass Täter verurteilt werden. Unser Projekt leistet vielmehr einen Beitrag dazu, den Schutz von Zeug*innen zu gewährleisten und sie psychosozial zu begleiten. Uns ist es wichtig, dass die von Kriegsgewalt betroffenen Frauen langfristig ein eigenständiges Leben führen können. Daher werden sie mit wirtschaftlichem Empowerment auf ihrem langen Weg gestärkt. Bei den Workshops in der zentralbosnischen Gemeinde Prozor-Rama, die von unserer Partnerorganisation FLD konzipiert und durchgeführt werden, kommen Frauen unterschiedlicher Konfessionen und Ethnien zusammen. Oft handelt es sich dabei um Menschen, die im Krieg unterschiedlichen Konfliktgruppen angehört haben und zwischen denen es bis heute Spannungen und Misstrauen gibt – eben auch aufgrund fehlender Aufarbeitung. Doch durch gemeinsame Themen wie Gesundheitsförderung oder Vermarktungsideen für ihre landwirtschaftlichen Produkte gelingt es häufig, diese Gräben zu überwinden und zusammenzufinden.
Nur mit einem solchen ganzheitlichen Ansatz, der auch soziale Gerechtigkeit einfordert und auf strukturelle Veränderungen im Justizwesen abzielt, werden die Rechte der Frauen tatsächlich gestärkt.

Was wir erreichen

  • Etablierung professioneller Rechtsberatung und psychosozialer Begleitung vor, während und nach Gerichtsverfahren
  • Verankerung von gender- und traumasensiblen Ansätzen in juristischen Ausbildungen
  • Schulung von Rechtsberater*innen zur Sensibilisierung im Umgang mit Überlebenden von sexualisierter Kriegsgewalt
  • Schutz und psychologische Begleitung von Zeug*innen
  • Beitrag zur Wahrheitsfindung und kollektiver Vergangenheitsbewältigung
  • Unterstützung für betroffene Frauen, ihre Rechte und Entschädigungsansprüche einzuklagen
  • Sozio-ökonomische Unabhängigkeit für Frauen im ländlichen Raum durch selbstverwaltete Agrarkooperativen
  • Ausbau der ländlichen Infrastruktur für ein gemeinschaftliches Dorfleben
  • Treffpunkte und Workshops für interethnische Begegnungen
  • Stärkung des Selbst- und Rechtsbewusstseins betroffener Frauen

 

Für einen würdigen Weg zu Entschädigung und mehr Rechtssicherheit

 
Überlebende der Kriegsgewalt in Bosnien und Herzegowina werden häufig stigmatisiert, bedroht und erleben soziale Ausgrenzung. Viele mussten während des Krieges aus den ländlichen Regionen flüchten und konnten erst vor einigen Jahren wieder in ihre Dörfer zurückkehren. Andere würden die Orte, an denen sie den Krieg erlebt haben, lieber verlassen – doch sie sind durch die Umstände gezwungen zu bleiben. Frauen in den ländlichen Regionen von Bosnien und Herzegowina sind besonders oft von Armut betroffen, was ihre Benachteiligung noch verstärkt. Diese Hindernisse machen es ihnen zunehmend schwer, über ihre Erlebnisse im Krieg zu sprechen und juristische Schritte einzuleiten, um Entschädigung zu fordern. Diejenigen, die dennoch den Mut aufbringen, als Zeuginnen vor Gericht auszusagen, erhalten meist keine professionelle und traumasensible Beratung, die in diesen Fällen so notwendig ist. Die Frauen werden in den Gerichtsverfahren diskriminiert und nicht ausreichend vor Angriffen geschützt. Psychologische Begleitung der Frauen und eine ausreichende Sensibilisierung der Behörden fehlen. Das alles kann zu Retraumatisierungen der Frauen führen. Viel zu viele Zeuginnen schweigen, weil sie dem Rechtssystem misstrauen und Angst vor Vergeltung und Stigmatisierung haben. Es sind aber gerade ihre Aussagen, die von unschätzbarem Wert für die Aufarbeitung von Kriegsgewalt gegen Frauen sind. Da auch für den Anspruch auf eine monatliche Opferrente Zeuginnenaussagen notwendig sind, müssen Frauen begleitet, geschützt und gestärkt werden, damit sie ihre Rechte durchsetzen können. Lange mussten Geschädigte erst den Abschluss eines langwierigen Strafprozesses die Möglichkeit abwarten. Erst danach bestand die Möglichkeit, den verurteilten Täter zivilrechtlich auf Entschädigung zu verklagen. Diese Klage ist verbunden mit einem weiteren langen Gerichtsverfahren, das meist ohne Entschädigungsleistung endet, da die Täter sich mittellos erklären und der Staat bisher keine Entschädigungsfonds aufgebaut hat. Seit 2015 können Entschädigungsklagen in den Strafprozess integriert werden, doch die Situation im Gerichtsprozess und die strukturellen Hürden sind nach wie vor stark belastend für die Betroffenen. Das Recht der Frauen auf Gerechtigkeit und ökonomische Perspektiven wird ihnen so wieder und wieder verwehrt. Der Mut, den sie aufbringen, um bei der Wahrheitsfindung zu helfen und für die eigenen Rechte einzustehen, ist unermesslich. Damit sie darin bestärkt werden, braucht es strukturelle Veränderungen.

 

Unser Ansatz zur Stärkung gewaltbetroffener Frauen

Zusammen mit unseren Partnerinnen arbeiten wir in Bosnien und Herzegowina mit einem Schwerpunkt in der ländlichen Region Prozor-Rama daran, dass Überlebende für ihre Rechte und die Anerkennung ihres erlittenen Unrechts kämpfen können. Unsere Aktivitäten umfassen:

    • zivilgesellschaftliche Lobby-Arbeit für kompetente staatliche Rechtsberatung und Implementierung der Richtlinien von Zeug*innenschutzstandards
    • Erstellung eines Handbuchs zur Schulung von Justizbeamten
    • mobile Rechtsberatung
    • psychosoziale Prozessbegleitung vor, während und nach Gerichtsverfahren
    • therapeutische Gesprächsgruppen
    • ökonomische Beratung und Investitionshilfen bei der Gründung und dem Aufbau von Agrar-Kooperativen (u.a. Agrar-Mini-Grants, Trainings, Messeteilnahmen)
    • Sensibilisierung der Kommunalverwaltung zur Verbesserung der Dorfinfrastruktur (z.B. Asphaltierung der Straßen, Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr, Gemeinschaftsräume)
    • Trainings- und Weiterbildungsangebote für unsere Partnerinnen: Team-Supervision als Mittel zur Selbstfürsorge

 


Das Projekt wird vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, von der Baden-Württemberg-Stiftung, von der Annemarie-Grosch-Frauenstiftung der Evangelischen Nordkirche und von Gratia – Stiftung der Evangelischen Frauen in Baden sowie durch Spenden an AMICA e.V. unterstützt.


Saja Ćorić kämpfte gegen große Widerstände für ein Anliegen, das trotz UN-Resolutionen und offiziellen Erklärungen weltweit ein Tabu bleibt: Die Anerkennung sexualisierter Gewalt als Kriegs­verbrechen. Portrait einer wichtiger Mitstreiterin.

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“Unbehelligte Täter, schweigender Staat – Sexualisierte Kriegs­gewalt ist in Bosnien bis heute ein Tabuthema”. Ein Beitrag von Hannah Riede (AMICA), Larissa Schober (iz3w) und Lejla Šadić (Fondacija lokalne demokratije) für die Zeitschrift iz3w (Ausgabe 383, März 2021).

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„Wenn wir uns heute auf der Straße begegnen, begrüßen wir uns, küssen uns“. Elma, die in Wirklichkeit anders heißt, lächelt, als wir sie fragen, wie sie sich heute fühlt, umgeben von anderen Frauen und Freundinnen: „AMICA ist für uns ein zweites Zuhause“.

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